Die 1291-Schweiz als Gegenmodell

1291 schliessen drei Gemeinden einen Pakt zu gemeinsamen Nutzen in Verteidigung gegen grössere umliegende Mächte, allen voran die verschiedenen Herrschaftszonen des Habsburgerreichs. Sie ahnen nicht, welche Implikationen dieser Vertrag hat: Er bildet der Anfang eines beispiellosen Bunds von Klein- und Kleinst-Kantonen und praktiziert, was die grossen Vertragstheorien der Aufklärung erst Jahrhunderte später theoretisch aufarbeiten: Der Zusammenschluss freier Gemeinden in eine Föderation gemeinsamen Nutzens. Die erste und einzige Willens-„Nation“ des Mittelalters. An radikales Gegenmodell zum lehnsrechtlich-aristokratischen Europa, aus dem in der Neuzeit die Kulturnationen geboren werden.

Ja, die Schweiz, damals: Eidgenossenschaft, ist von einer solchen Andersartigkeit in ihrer Geschichte und Entstehung, das es nicht verwundert, das sie mit den Briten als grosser Spezialfall in Europa betrachtet wird. Während die Briten durch die Insellage in Verbindung mit früher isolationistischer Haltung gegenüber dem Kontinent eine relativ eigenständige Geschichte haben, ist die Schweiz von Anfang an ein Land, das nicht durch Geburt, sondern durch Vertrag zusammengehalten wird: Die Schweiz ist und war nie eine „Nation“, sondern ist eher ein Gemeinwesen im Sinne Ciceros: Gemeinsamer Nutzen, nicht gemeinsames Blut. Sowohl in die Ständeordnung des Mittelalters als auch in die Zeit des Nationalismus passte sie nie recht hinein. Dies liess sie freilich nicht aufhalten, im Spätmittelalter zwischen Frankreich und Habsburgern zur alpinen Grossmacht aufzusteigen, die ihren Platz in Europa, auf Expansion gerichtet, verteidigte. Mit der Niederlage bei Marignano 1515 gab sie diese Ambitionen indes auf. Wir erkennen: Die Schweizer Geschichte auf 1848 zu reduzieren heisst, dieses ganze Herkommen auszuklammern und zu vergessen. Die heutige Tendenz, die Schweiz auf den Bundesstaat zu reduzieren heisst auch, einen grossen Teil des helvetischen Selbstverständnisses einfach beiseite zu schieben.

In diesem Sinne erscheint 1848 als wichtiges Datum für die Schweiz, ja, als ihre grösste Revolution nach 1515, aber keineswegs ihr Anfang. Die Schweiz als solche bestand auch schon vorher und sie ist nur durch diese Zeit vorher zu verstehen. Beginnt man die Geschichte bei 1848, so erscheint die Schweiz denn auch Europa viel ähnlicher. Die radikale Differenz zu anderen europäischen Ländern verblasst da etwas. Vielleicht erkennt man hier auch die Motivation dieser Geschichtsanschauung, wenngleich dies bestimmt nicht die einzige Motivation ist. Wir lernen: 1291 und das Rütli zu feiern heisst, die Entstehungsgeschichte und Spezialität der Schweiz in Europa anzuerkennen.

Julian Stöckli, Vorstandsmitglied Team Freiheit

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